19. Mai 2013 // Die Untüchtigen: Was kritische Theorie gewesen sein wird: Moderne Selbstreflexion oder Postmodernekritik?

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„Die Väter aßen saure Trauben; doch erst den Kindern wurden die Zähne stumpf davon. So baut jede Generation Hindernisse auf, über die ihre Nachkommenschaft stolpern wird.“
Vincent Descombes

Man hat sich daran gewöhnt, dass Kritische Theorie irgendwie gleichbedeutend geworden zu sein scheint mit „Postmodernekritik“. Deshalb wundert man sich kaum noch, wenn verblüffend vielseitige Vorschläge unter dem Sammeltitel „Die Postmodernen“ wegsortiert werden; und auch nicht, wenn man ihnen mit einem – mitunter groben – Irrationalismusverdacht begegnet. Mit einem Eifer, der bei kritisch Denkenden eigentlich (zumindest ihrem Selbstverständnis nach) Irritationen provozieren sollte, werden solche Vorschläge dabei typischerweise so inquisitorisch befragt, dass bereits feststeht, was man in ihnen findet: eine Abkehr von der Idee moderner Zivilisation, revisionistische Geschichtsbetrachtungen, Gesellschaftsvergessenheit, kurz: Relativismus und Skeptizismus.

Das ist alles nicht neu und wäre nicht weiter bemerkenswert (immerhin kursieren solche ideologiekritischen Zuschreibungen seit mindestens 30 Jahren) – würde die immergrüne Postmodernekritik nicht selbst Formen kritischer Theorie vereinen, die sich wechselseitig durchaus absprechen, überhaupt noch kritische Theorie zu sein. Auf der einen Seite warnte Habermas schon in den 80ern vor der Vermischung von Literatur und Philosophie, mit welcher der Begriff von Wahrheit überhaupt und damit auch das unvollendete „Projekt der Moderne“ durch postmoderne Theorien begraben werde. Habermas reagierte damit nicht nur auf Derridas bohrende Kritik an den theoretischen Grundlagen seiner „Reformulierung“ kritischer Theorie; die postmodernekritische Invektive sollte auch die Hegemonie einer „Kritischen Theorie“ auf dem zerklüfteten Feld der Gesellschaftskritik sichern. Und diese Hegemonie freilich ist in Gefahr, wenn „Postmoderne“ sich zu Erben der Kritischen Theorie und der emanzipativen Potentiale des Marxismus’ erklären. Kein Wunder also, wenn – auf der anderen Seite – „orthodoxere“ Erben des Marx’schen Projekts von Haug und Holz über Badiou bis hin zu Zizek in ihrer Abwehr der „Postmoderne“ als letzter Gärungsstufe „spätbürgerlicher Ideologie“ den Schulterschluss mit den ansonsten eher geringgeschätzten Kolleg_innen aus Frankfurt proben – wie auch immer bewusst. Wenn eine „Strömung“ wie „die Postmoderne“ es schafft, derart zerstrittene Gegner zu vereinen – dann ist sie entweder ganz fraglos die Speerspitze einer unbezweifelbaren Barbarei. Oder – vielleicht – sie legt denkerisch den Finger in Wunden des Projekts Kritischer Theorie in vielen (allen?) ihrer Ausprägungen, wie sie sich mehr oder minder behaglich, mehr oder minder akademienah, in der BRD etablieren konnten. Ein Merkmal kritischen Nachdenkens sollte sein, diese Alternative nicht vorschnell als entschieden abzutun.

Denn: Schon, was unter „die Postmodernen“ gezählt wird, ist gar nicht so klar; der Vorwurf eines voluntaristischen Relativismus müssen sich viele Postmodernekritiker_innen selbst gefallen lassen. Sebastian Schreull wird in seinem Vortrag daran erinnern, wie Kritische Theorie dann wieder zu traditioneller Theorie regrediert, wenn sie ihren Gegenstand nicht länger wirklich trifft, er nicht länger immanent kritisiert, sondern ihm einfach ein Schema übergestülpt wird. Wie immer problematisch als „postmodern“ markierte Philosophien sein mögen – ihre Mängel berechtigen nicht dazu, die ‚Standards’ einer kritisch-theoretischen Praxis dogmatisch zu unterschreiten. Und das ist nicht eine philologische Übung, sondern eben die Wirklichkeit kritischer Theorie: Nur durch die angemessene, treffliche Kritik anderer „Gestalten des Bewußtseins“ bestimmt sie ihre Wirkung und dadurch die gesellschaftliche Wirklichkeit, um diese zu verändern.

Eine geteilte Schwierigkeit der vereinigten Postmodernekritiker könnte – das reißt Jan Müller in seinem Referat an – ihre falsch verstandene Ernsthaftigkeit sein. Wo Ironie und Distanzierung lediglich als Zeichen relativistischer Selbstüberhöhung oder als Symptom des Verzichts auf Konsequenz verstanden wird, da scheint ein gewisser Dogmatismus nicht nur schick, sondern das einzige Gegengift zu sein. Doch dieser Schein trügt. Wer die Schwierigkeit und, ja, auch die unvermeidliche Abgehobenheit begrifflicher Modellierungen ernstnimmt und mitmacht, der leistet damit keinen Verzicht auf vernünftige Rechenschaft – ganz im Gegenteil. Zur „Re-Aktualisierung“ (also: zum Wieder- oder Endlich-mal-Wirklichmachen) kritischen Nachdenkens gehört auch der Umgang mit der Schwierigkeit, wie weit man die Metareflexion treiben muss, und ab wann sie selbstgefällig oder gegenstandslos wird. Manche_r „Kritische_r Theoretiker_in“ verschreckt schon die Ahnung dieser Schwierigkeit so sehr, dass sie und er sich sicherheitshalber antiintellektualistisch panzern; andere wiederum bieten gegen das Gespenst das ganze Arsenal der akademischen Philosophie auf. Gemeinsam ist ihnen, dass sie die Schwierigkeit als eine theoretische verstehen, und sie deshalb auch nur (spiegelbildlich zueinander) theoretisch lösen wollen. Ein Autor wie Derrida dagegen könnte in der spielerischen Einsicht, dass das Problem – „vielleicht“ – ein praktisches ist, dem Erbe, dem Geist und der Aufgabe (wie man so sagt) der „Kritischen Theorie“ verblüffend nahe sein.

In der anschließenden Diskussion können wir ausprobieren, was es bedeutet, dass in kritischer Theorie wieder wirklich um ihr Erbe gestritten wird, und fragen, was dabei an Tradition auf der Strecke bleibt (und ob das ausschließlich schade ist).