Keine Macht für Niemand! Oder: Was ist eigentlich Anarchie?
»Lernen konnte ich vor allem durch die russische Entwicklung samt Entstellung des Sozialismus, dass man nicht allein von der Wirtschaft und ihrer Vergesellschaftung ausgehen kann, sondern fast primär vom Staat und seiner Abschaffung ausgehen muss, um die klassenlose Gesellschaft wirklich und unverfälscht zu erreichen, sozusagen ohne die neue oder halbzaristische Herrenschicht der Apparatschicks.« – Ernst Bloch, Brief an Arthur Lehning (u. a. Anarchist, Herausgeber der Zeitschrift ›i10‹), Oktober 1974 (als Faksimile abgedruckt in: Bloch-Jahrbuch 2012, Mössingen-Talheim 2012, S. 203)
Ernst Bloch verteidigte noch in seinem ›Prinzip Hoffnung‹ Stalin und mit ihm auch einen auf Zettelkasten und Zuchthaus reduzierten Marxismus-Leninismus des Arbeiter- und Bauern-Staates, also der DDR, die er 1961 verließ. Schon der Ungarnaufstand 1956 brachte Bloch in Gegenposition zur SED. Eine Revision des realen Humanismus war nötig, und die anarchistische Theorie und Praxis bot mehr als nur Anknüpfungspunkte.
Bloch ist nicht alleine. Gerade ein kritischer Marxismus nimmt entscheidende Momente des Anarchismus auf, öffnet sich ohnehin in den sechziger Jahren für Ansätze und Strategien, die bisher im Kanon des Lehrbuch-Sozialismus nicht vorkamen, dort ausgemerzt wurden: der Anarchismus galt schlechterdings als kleinbürgerlich und konterrevolutionär.
Indes keimte in der so genannten Neuen Linken eine Idee des Kommunismus auf, die ihre revolutionäre Kraft mehr aus dem Anarchismus, denn aus dem Marxismus schöpfte.
Herbert Marcuse sympathisierte mit den Anarchisten, Hans-Jürgen Krahl entdeckte bei Adorno und Horkheimer anarchistische Motive, die Hippies und die Yippies, überhaupt die so genannte Counter-Culture lebte von anarchistischen Impulsen, auch der Feminismus und die Ökologie-Bewegung hatten wesentlich anarchistische Züge: »Die rote Front und die schwarze Front – sind wir!«, skandierten Ton Steine Scherben.
Ein bisschen Anarchie passte auch zu den Wilden Sechzigern und den Siebzigern, Hedonismus im Schatten der Ölkrise, von Punk bis Disco. – »Anarchie« wurde überdies merkwürdig zum Kampfbegriff, reaktionär; auf den Fahndungsplakaten hieß es: »Anarchisten! Vorsicht Schusswaffengebrauch!« Zugleich setzten sich anarchistische Elemente aber auch mit dem propagierten Individualismus der postfordistischen Gesellschaft Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre durch; die Autonomen konterkarierten das linkspolitisch. Etc.
Im ersten Teil der kleinen Reihe über Geschichten der Anarchie soll es zunächst um einen sehr allgemeinen Begriff der Anarchie und seiner besonderen Bedeutung für die sechziger Jahre ff. bis zur Gegenwart gehen.
Das konspirative Beiprogramm: Außerdem wird es im Golem-Untergrund ein bisschen Kino geben.
Über die Reihe:
NULLA CRUX NULLA CORONA NULLUS HIRCUS
Geschichten der Anarchie
Was ist Anarchie? – »An|archie […chi; gr.] w; -, …ein: Herrschafts-, Gesetzlosigkeit. an|archisch. An|archismus [gr.-nlat.] m; -: Lehre von der Verneinung der Staatsgewalt u. -ordnung. An|archist m; -en, -en: Umstürzler, Staatsfeind. an|archistisch.« (›Duden‹, 1966)
Die bisherige Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte der Herrschaft, die Geschichte der Anarchie gibt es noch nicht. Gleichwohl gibt es Geschichten der Anarchie: Wünsche, Berichte, Entwürfe, Phantasien, Revolten, Revolutionen oder Experimente dafür, das menschliche Leben, das menschliche Zusammenleben als eine Gesellschaft ohne Herrschaft einzurichten. Solche konkrete Utopie scheint zunehmend in Vergessenheit zu geraten, je mehr die Herrschaftsverhältnisse, wie sie sind, zur Selbstverständlichkeit werden. Und wenn nun sogar erklärt wird, dass diese Geschichte zu ende ist, wollen wir an die Geschichten der Anarchie erinnern:
Kein Kreuz, keine Krone, kein Bock!
Anders als die marxistische Kritik der politischen Ökonomie konzentrieren sich die Anarchisten in ihrer Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen auf die Kritik von Staat, Kirche und Religion sowie – schon sehr früh und die feministische Bewegung begründend – das Patriarchat. Während der »wissenschaftliche Sozialismus« sich im Entwurf einer kommunistischen Zukunft weitestgehend zurück hält und kaum dazu äußert, wie eine freie Gesellschaft aussieht, sind für den Anarchismus die Utopien des befreiten und befriedeten Daseins charakteristisch. Anders gesagt: Geht es dem an Marx orientierten Sozialismus vorrangig um die kritische Analyse der Wirklichkeit, stellt der libertäre Sozialismus der Anarchisten die kritische Analyse der Möglichkeit des Menschen in den Vordergrund (und entwickelt über diese Analyse der Möglichkeit die Kritik an den wirklichen Herrschaftsverhältnissen).
War noch im neunzehnten Jahrhundert die Vielfalt sozialistischer Bewegungen durch Wahlverwandtschaften gekennzeichnet, kommt es im Schatten des Terrors des zwanzigsten Jahrhunderts – zu dem immer wieder auch der Sozialismus in seinen verschiedenen Fassungen gehört – zu einer historischen Dissoziation von Kommunismus und Anarchie: Einerseits die Verhärtung des Kommunismus zum Marxistisch-Leninistischen Apparat und schließlich zum bürokratischen Regime des Stalinismus, andererseits der regressiv-reaktionäre Umschlag der anarchistischen Idee der Freiheit in Gewalt, Nihilismus, schließlich auch Antisemitismus, Faschismus und Autoritarismus.
Die Anarchie ist der Geschichte ausgetrieben worden. Gleichwohl lässt sich – sogar mit offenkundiger Aktualität – sagen, dass sich das Konzept der Anarchie im Verlauf der letzten einhundert Jahre nachgerade mit historischer Notwendigkeit anbietet – mindestens wenn ernsthaft die Menschheit auf diesem Planeten überleben will, allemal aber wenn es um die menschliche Verwirklichung des glücklichen Lebens geht.
Die Reihe stellt in Exkursen verschiedene anarchistische Positionen, Strömungen und auch Versuche der Moderne vor (wenngleich sich die Spuren dieser Ideen bis weit in die menschliche Frühzeit zurückverfolgen lassen). Wir zeigen Filme, präsentieren historische Dokumente und Texte, diskutieren.